Die gesprochene Umgangssprache
in Norddeutschland
Erstmals in »Sproglæreren« 3/1979 erschienen.
Das fällt mir so richtig auf, wenn ich Hajo seinen deutschen Briefkasten [in Sproglæreren] lesen tue, daß das korrekte Deutsch oft ganz anders ist wie das umgangssprachliche, was man hier in der Gegend hört, und da weiß man als dänischer Lehrer oft viel zu wenig von. Ich habe beispielsweise da nichts von gewußt, bevor ich vor vier Jahren nach Deutschland zog, und darum will ich hier ein paar Beispiele geben, denn so was gibt es wohl sonst nirgends zu lesen; ich wüßte jedenfalls nicht wo.
Die ersten Beispiele sind schon der Einleitung zu entnehmen. Einige von den Ausdrücken gehören natürlich vor allem zur Sprache der niederen Schichten, während andere allgemein gängig sind.
Weitere Beispiele fielen mir ein, als ich Sproglæreren Nr. 1 durchblätterte. Auf Seite 17 steht: »Wohin geht der Mann?« Ich glaube schon, daß es lange her ist, daß ich die Ausdrucksweise gehört habe, obwohl sie korrekt ist. Man würde aber eher sagen: Wo geht der Mann hin? Und ebenso: Wo hast du das her?
Im deutschen Briefkasten werden Zeitbestimmungen behandelt, und es werden u.a. folgende Beispiele von der Anwendung von innerhalb gegeben: innerhalb dreier Jahre und innerhalb fünf Jahren, also mit Genitiv bzw. Dativ; beides hört sich aber ziemlich hochtrabend an; man sagt - jedenfalls in der Umgangssprache - eher: innerhalb von drei Jahren und innerhalb von fünf Jahren. (Übrigens steht auch folgende Behauptung zu lesen: »Die Zahlwörter von vier an werden nicht mehr gebeugt!« Das stimmt nicht ganz. So heißt es z.B.: Er krabbelte auf allen vieren herum, d.h. auf Händen und Füßen. Sehen Sie weitere Beispiele in Schulz/Griesbach: Grammatik der deutschen Sprache, § E 660.)
Der Genitiv ist heutzutage unbeliebt. So hört man in der Umgangssprache fast nie Genitivformen, die von einer Präposition regiert sind. Aus »wegen des schlechten Wetters« wird »wegen dem schlechten Wetter« oder sogar »von wegen dem schlechten Wetter konnte ich nicht kommen«. Auch der possessive Genitiv ist im Rückgang: das Dach vom Haus, die Tochter vom Kaufmann. Für »das Buch meines Vaters« kan man auch »meines Vaters Buch« sagen, aber kommen Sie mal hierher, dann werden Sie auch »mein Vaters Buch« hören können!
Oder hören Sie zu, wenn sich zwei Frauen über die neuesten Gerüchte unterhalten, da sagt vielleicht die eine: »Du weißt doch, von Frau Cornils die Tochter, die hat neulich...« »Ja,« sagt die andere, »und dabei ist sie doch Frau Cornils ihre einzigste Tochter.« (Es ist kein Irrtum, daß ich einzig gesteigert habe!)
Die Anwendung von tun als Hilfsverb kommt nicht bloß in Norddeutschland vor, die hört man auch anderswo, bei Köln zum Beispiel. Vor allem findet man tun als Hilfsverb in Nebensätzen (Wenn du mich hauen tust, hau ich zurück!), aber mitunter hört man auch tun als Hilfsverb in Hauptsätzen (Herr Lehrer, Reiner tut mit Wischgummi werfen!). Eine Frage wie »warum tust du mich das fragen?« hört man ab und zu auch so ausgedrückt: »warum frägst du mich das?«, obwohl die Umlaut eigentlich nur bei den unregelmäßigen Verben vorkommen dürfte.
Eigentlich ist es ja unlogisch, daß einige Verben den Dativ regieren. Das tun sie übrigens auch nicht immer: Tust du mich mal helfen? Ein Versuch der Vereinfachung der Sprache liegt auch in einem Ausdruck vor wie: Er tretet mich mit die Füße (sparker). Analog mit den schwachen Verben kann man leicht auf den Gedanken kommen, daß es tretet und nicht tritt heiße. Daß der bestimmte Artikel falsch ist, ist etwas seltener, aber es ist dagegen ganz üblich, daß das extra -n im Dativ Plural weggelassen wird: Menschen wohnen in Häuser aller Art.
Der Konjunktiv wird natürlich in irreellen Sätzen verwendet: Wenn wir Geld hätten, würden wir ein neues Auto kaufen. Aber in der indirekten Rede hört man normalerweise in der Umgangssprache nur den Indikativ: Er sagte, daß er schon gestern hier war. Er erzählte, daß sein Vater Kaufmann ist.
Auf gutem Deutsch heißt es »das haben wir ja tun wollen« oder »das haben wir ja gewollt«. Die Analogiebildung hat aber dazu geführt, daß in der Umgangssprache ein Satz wie »das haben wir ja wollen« auch noch vorkommt. Das ist jedenfalls in ganz Norddeutschland ein üblicher Satz.
Perfekt wird fast so gebraucht wie im Lateinischen, d.h. auch dort wo ein deutsches Imperfekt möglich wäre. Beispiel: Als ich in der Küche stand, ist Peter reingekommen. Man verwendet überhaupt vielmehr das Perfekt, z.B. bei einer Berichtserstattung über Erlebnisse, die man gehabt hat.
Vielleicht haben Ihre Schüler Schwierigkeiten, wann sie das dänische »men« mit »sondern« anstelle von »aber« übersetzen müssen. In der Umgangssprache ist es ganz leicht; da kann man immer »aber« sagen.
In Verbindung mit brauchen entfällt normalerweise »zu« vor dem Infinitiv, also sagt man für »du brauchst nicht so früh zu kommen« eher »du brauchst nicht so früh kommen«.
In der Zeitung stand vor einiger Zeit: »... so daß die Polizei nicht eingreifen brauchte«. Natürlich wäre auch »nicht einzugreifen brauchte« richtig gewesen. -
Auch Deutsche verwechseln mitunter brauchen und gebrauchen. Beispiel: Wir gebrauchen viele Anmeldungen, damit die Veranstaltung stattfindet.
Schon in der Einleitung haben Sie gesehen, wie Adverbien, die aus der Zusammensetzung mit einer Präposition entstanden sind, getrennt werden, wie z.B. in: Wir haben da guten Erfolg mit gehabt. Das ist ganz üblich, und wenn man sich erst daran gewöhnt hat, würde es einem doof vorkommen zu sagen: Davon weiß ich nichts. Man sagt eben: Da weiß ich nichts von. Oder - vereinzelt: Das weiß ich nichts von.
Will man die Uhrzeit wissen, sagt man in Eiderstedt: Was hat die Uhr? (Die Antwort wäre wohl: Zwei Zeiger und ein Zifferblatt). In Flensburg sagt man: Was ist die Uhr? (Antwort: Ein schönes Geburtstagsgeschenk).
Oft verwendet man wie, wo als stehen müßte, z.B.: Wie ich rauskam, fing es an zu regnen. - Ich bin größer wie du.
Man unterscheidet nicht zwischen hinein und herein, beides heißt rein. Für hinaus und heraus sagt man in beiden Fällen raus. Ebenso fällt ein a raus in drauf und drin, und grade hat ein e verloren.
Für einmal setzt man mal: Warst du schon mal in Berlin? Kommst du mal! Wenn ihr später mal dort hinkommen solltet, dann...
Wenn ein Kind Naschkram (d.h. Süßigkeiten) mit in die Schule hat, fragt ein Mitschüler vielleicht: »Krieg' ich da ein Stück von ab?« - Ist einer verletzt, nachdem er eine Treppe runtergefallen ist, kann man fragen: »Hat er viel abgekriegt?« d.h. ist er sehr mitgenommen? Diese kleine Silbe ab gibt es aber in mehreren Verbindungen, z.B. auch wenn ein Kind beim Friseur war, da sagen die anderen: »Na, du hast Haare ab!« (Nå, du har rigtignok været hos klipperen!), oder in der Verbindung »Er konnte das viele Saufen nicht ab« (d.h. vertrug nicht) oder »Ich kann es nicht ab, wenn du...« (halte es nicht aus). Die beiden letzten Beispiele sind ganz üblich, bloß sind sie aus irgendeinem Grund noch nicht in den Wörterbüchern mit drin.
Zuletzt einige Beispiele, wo die Fehler durch Einfluß von der plattdeutschen Sprache entstanden sind, was übrigens auch in einigen von den schon erwähnten Fällen der Fall ist: Er fuhr nach seiner Mutter hin. Die Jungs (Jungen) spielen draußen. Das haben wir all gehabt (Das ist überstanden oder ist schon vorbei). Da habe ich einen ganzen Berg von (eine ganze Menge). Ich fahre jetzt zu Hause. Ich war man eben aus dem Haus raus, da fing es schon an zu regnen. Gestern ist auf mal meine Katze totgeblieben (Gestern ist plötzlich meine Katze gestorben). Dagegen werden Ausdrücke wie »Das Geld ist alle« (d.h. ausgegeben) und »Die Kartoffeln sind alle« (d.h. verbraucht) wohl schon als Hochdeutsch empfunden, da sie schon in die Wörterbücher Eingang gefunden haben.
Man könnte sicherlich auch viele andere Beobachtungen machen, wie die Sprache tatsächlich gesprochen wird, und zwar wird es in anderen Teilen Deutschlands anders sein als hier bei uns. Ich möchte aber gerne noch eine Frage stellen. Wenn ich später einmal nach Dänemark ziehe, wäre es dann falsch von mir, in einem Unterrichtsgespräch so zu sprechen wie die Deutschen? Oder besser gesagt: wie einige Deutsche. Die Sprache, die wir in der Schule lehren, braucht wohl nicht besser (zu) sein als die der Deutschen? - Dagegen gibt es ja aber natürlich andere Fehler, die ausgerottet werden müssen, nämlich diejenigen, die die Verständigung erschweren. Heutzutage muß man ja fast Dänisch können, um einen dänischen Schüler zu verstehen, wenn er versucht, sich auf Deutsch auszudrücken.
Hans Christophersen
Plattdeutsch